Untersuchung: Schweizer Gletscher 2022 stärker geschmolzen als je zuvor
Die Gletscher in der Schweiz sind in diesem Jahr so stark geschmolzen wie nie zuvor. Wie die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) am Mittwoch mitteilte, verloren die Gletscher mehr als sechs Prozent ihres Eisvolumens. Sehr wenig Schnee im Winter und mehrere Hitzewellen im Sommer sorgten demnach dafür, dass sämtliche Rekorde der Eisschmelze gebrochen wurden. Der renommierte Gletscher-Forscher Matthias Huss erwartet wegen des fortschreitenden Klimawandels eine weitere Beschleunigung der Gletscher-Schmelze.
"2022 war für Schweizer Gletscher katastrophal: Mit sehr wenig Schnee im Winter und anhaltenden Hitzewellen im Sommer wurden sämtliche Rekorde der Eisschmelze pulverisiert", erklärte die Expertenkommission für Kryosphärenmessnetze der SCNAT. Laut der Untersuchung gingen seit Jahresbeginn rund drei Kubikkilometer und damit mehr als sechs Prozent des Gletschereis verloren. Zum Vergleich: Bislang wurden Jahre mit zwei Prozent Eisverlust schon als "extrem" bezeichnet.
Besonders litten laut SCNAT kleine Gletscher: Der Pizolgletscher, der Schwarzbachfirn oder der Vadret dal Corvatsch etwa seien praktisch verschwunden.
Im Engadin und im südlichen Wallis schmolz in 3000 Metern Höhe über dem Meeresspiegel eine Eisschicht von vier bis sechs Metern Dicke. Dass viele Gletscherzungen zerfallen und Felsinseln aus dem dünnen Eis auftauchen, beschleunigt den Eisverlust weiter.
Nach Einschätzung von Huss, der Professor für Glaziologe an der ETH Zürich ist, ist keine Besserung in Sicht. "Es ist nicht möglich, das Abschmelzen kurzfristig zu verlangsamen", sagte er der Nachrichtenagentur AFP. Wenn die klimaschädlichen CO2-Emissionen deutlich verringert und andere Klimaschutzmaßnamen ergriffen würden, könne dies "im besten Fall rund ein Drittel des Gesamtvolumens" des Gletschereises in der Schweiz retten. Anderenfalls werde das Land "fast alles bis zum Ende des Jahrhunderts verlieren".
Der Untersuchung zufolge war das Jahr 2022 bereits mit einer geringeren Schneehöhe in den Alpen als sonst üblich gestartet, vor allem im Süden der Schweiz. Große Mengen Saharastaub verstärkten von März bis Mai den Effekt: Der verunreinigte Schnee absorbierte mehr Sonnenstrahlen und schmolz schneller - die Gletscher verloren den schützenden Schnee bereits im Frühsommer. Zwischen Mai und Anfang September sorgte dann anhaltende, teils massive Hitze dafür, dass die Gletscher noch schneller schmolzen.
Gletscher sind unter anderem als Wasserspeicher von großer Bedeutung und damit auch für Wasserkraftwerke, aus denen derzeit mehr als 60 Prozent der in der Schweiz erzeugten Energie stammt. Laut Huss muss sich das Alpenland wegen der fortschreitenden Erderwärmung umstellen, denn in 50 Jahren seien wahrscheinlich "alle Gletscher verschwunden" und könnten daher "in einem heißen und trockenen Sommer kein Wasser mehr liefern".
Der Weltklimarat IPCC hatte 2019 in einem Sonderbericht über die Ozeane und die weltweiten Eis- und Schneevorkommen prognostiziert, dass niedrig gelegene Gletscher wie in den Alpen und in Skandinavien bis zum Ende dieses Jahrhunderts rund 80 Prozent ihrer Masse einbüßen. In seinem im Februar veröffentlichten Sachstandsbericht nannte der IPCC das weltweite Abschmelzen von Eis und Schnee als eine der zehn größten Bedrohungen durch den Klimawandel.
Welche unmittelbare Gefahr die Gletscherschmelze darstellt, machte Anfang Juli ein Gletscherbruch in den italienischen Alpen deutlich. Am Marmolata-Gletscher kamen damals elf Menschen ums Leben.
P.Mathieu--JdB