Syriens Übergangspräsident Al-Scharaa kündigt "Konferenz des nationalen Dialogs" an
In seiner ersten Rede an die Nation hat Syriens Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa die nächsten Schritte für das vom jahrelangen Bürgerkrieg gezeichnete Land skizziert. Er stellte der Bevölkerung am Donnerstagabend eine "Konferenz des nationalen Dialogs" in Aussicht und versicherte, den "zivilen Frieden" sowie die territoriale Einheit erhalten zu wollen. Dutzende syrische Intellektuelle forderten in einer am Freitag gestarteten Petition die Wiederherstellung aller fundamentalen Freiheiten sowie die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung.
"Wir werden in den kommenden Tagen ein Komitee ankündigen, das die Konferenz des nationalen Dialogs vorbereiten soll, um die verschiedenen Standpunkte zu unserem künftigen politischen Programm anzuhören", sagte Al-Scharaa in einer vorab aufgezeichneten und von mehreren Fernsehsendern ausgestrahlten Rede. Zudem wolle er eine "Verfassungserklärung" herausgeben, die während der Übergangszeit im Land als rechtliche Referenz dienen solle.
Der Chef der islamistischen HTS-Miliz war am Vortag von der syrischen Übergangsregierung für eine unbestimmte Zeit zum Interimspräsidenten ernannt worden. Die neuen Machthaber beschlossen die Auflösung des alten Parlaments und setzten die Verfassung von 2012 vorerst außer Kraft. Zudem kündigten sie die Auflösung aller bewaffneten Gruppen sowie die der ehemaligen Armee des langjährigen Machthabers Baschar al-Assad an.
In seiner Rede versprach al-Scharaa, nach dem Sturz von Assad eine "echte Übergangsjustiz" zu schaffen. Er werde "die Verbrecher verfolgen, die syrisches Blut vergossen und Massaker und Verbrechen begangen haben" - unabhängig davon, ob sich diese in Syrien oder im Ausland aufhielten.
Die Ansprache erfolgte nach einem Treffen al- Scharaas mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani, in Damaskus - dem ersten Besuch eines Staatsoberhaupts in Syrien seit dem durch die HTS-Miliz herbeigeführten Sturz Assads und dem anschließenden Machtwechsel Anfang Dezember.
Der Emir betonte laut einer Erklärung die "dringende Notwendigkeit" der Bildung einer Regierung, die alle Bereiche der syrischen Regierung repräsentiert. Nur so könnten die Stabilität des Landes gefestigt sowie Projekte für den Wiederaufbau, den Wohlstand und die Entwicklung des Landes vorangetrieben werden.
Syriens Langzeitpräsident Assad war am 8. Dezember von Kämpfern unter Führung der islamistischen HTS-Miliz gestürzt worden. Damit bereiteten sie der jahrzehntelangen Schreckensherrschaft der Assad-Familie ein Ende. Unter Baschar al-Assad war im Zuge der Proteste im sogenannten Arabischen Frühling 2011 ein Bürgerkrieg ausgebrochen, der sich zu einem Konflikt mit ausländischer Beteiligung und hunderttausenden Toten ausweitete.
Dutzende syrische Intellektuelle, darunter Schriftsteller, Künstler und Akademiker, forderten am Freitag in einer Onlinepetition die Wiederherstellung fundamentaler Freiheiten in Syrien - "allen voran die Versammlungs-, Demonstrations-, Meinungs- und Religionsfreiheit".
Die Übergangsphase müsse zur Schaffung des politischen Systems beitragen, "für das sich das syrische Volk erhoben hat und für das hunderttausende seiner Söhne und Töchter gestorben sind", hieß es in dem Text, den die Nachrichtenagentur AFP einsehen konnte. Die Unterzeichner forderten zudem die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung nach einem fairen Wahlgesetz sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung, welche allen Syrern "Freiheit und Würde" garantiere.
Während der jahrzehntelangen Herrschaft der Assad-Familie waren abweichende Meinungen in der Öffentlichkeit brutal unterdrückt worden. Nun besteht die Befürchtung, dass unter den neuen Machthabern das islamische Recht eingeführt und ebenfalls Freiheiten eingeschränkt werden könnten. Dazu heißt es in der Petition, dass der Staat sich nicht in die Gewohnheiten der Menschen "in Bezug auf Essen, Trinken, Kleidung oder andere Aspekte des täglichen Lebens" einmischen dürfe.
A.Martin--JdB