Entsetzen über "Gräueltaten" nach Rückeroberung von Kiewer Vororten
Massengräber, mit Leichen übersäte Straßen und völlige Zerstörung - dramatische Berichte und Aufnahmen aus mittlerweile von der ukrainischen Armee zurückeroberten Gebieten bei Kiew haben international für Entsetzen gesorgt. EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich am Sonntag "erschüttert" über Bilder aus dem Ort Butscha und sprach von "Gräueltaten" und einem "Massaker". Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kündigte härtere Sanktionen gegen Russland und weitere Hilfen für das ukrainische Militär an.
Die russische Armee hatte sich zuletzt in der Region um Kiew zurückgezogen. In Butscha wurden danach laut Angaben der ukrainischen Behörden fast 300 Leichen gefunden. Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten, dass zahlreiche Toten zivile Kleidung getragen hätten. Sie sahen auf einer einzigen Straße in Butscha mindestens 20 Leichen liegen. Mindestens einem der Toten waren die Hände gefesselt.
"Alle diese Menschen wurden erschossen", sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. "Sie haben sie mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet." Es stünden Autos auf den Straßen, in denen "ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer". Nach Angaben des Bürgermeisters mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe noch in Reichweite des russischen Militärs lagen.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sprach von einem "absichtlichen Massaker" und forderte weitere Sanktionen. "Die Russen wollen so viele Ukrainer wie möglich vernichten", schrieb er im Onlinedienst Twitter. Die russischen Streitkräfte hätten "eine totale Katastrophe und zahlreiche Gefahren" hinterlassen, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj bei Facebook. Er warnte vor vermintem Gebiet und weiteren Luftangriffen.
Die Bilder der "hemmungslosen Gewalt" aus Butscha seien "unerträglich", schrieb Baerbock auf Twitter. "Dieses furchtbare Kriegsverbrechen kann nicht unbeantwortet bleiben", sagte Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) der "Bild". "Ich halte eine Verschärfung der Sanktionen für angezeigt."
Die ukrainische Regierung wertete den Rückzug der russischen Truppen aus dem Großraum Kiew und aus der weiter nördlich gelegenen Region Tschernihiw als Beleg für einen Strategiewechsel: Russland wolle sich stärker darauf konzentrieren, eroberte Gebiete im Süden und Osten der Ukraine zu halten.
Die russische Armee flog am Sonntag einen Luftangriff auf ein Industriegebiet nahe der südukrainischen Hafenstadt Odessa. See- und luftgestützte Raketen hätten eine Ölraffinerie und drei Lager zerstört, erklärte das Verteidigungsministerium im Moskau. Die ukrainische Seite erklärte, es habe keine Opfer gegeben und mehrere russische Raketen seien im Anflug abgeschossen worden.
"Die Region Odessa ist eines der vorrangigen Ziele des Feindes", erklärte der ukrainische Offizier Wladislaw Nasarow. "Der Feind verfolgt die heimtückische Taktik, sensible Infrastrukturen anzugreifen." Die Metropole ist der größte Hafen der Ukraine und zentral für die Wirtschaft des gesamten Landes.
Selenskyj erwartet auch "mächtige Angriffe" im Osten, vor allem auf das belagerte Mariupol. Die strategisch Stadt am Asowschen Meer steht seit Wochen unter massivem Beschuss der russischen Streitkräfte. Nach ukrainischen Angaben wurden dort seit Kriegsbeginn mindestens 5000 Menschen getötet, etwa 160.000 Zivilisten sollen in der weitgehend zerstörten Stadt noch festsitzen. Die humanitäre Situation ist katastrophal; die Menschen haben kaum Zugang zu Wasser, Lebensmitteln und Strom.
Eine Evakuierungsaktion des Internationalen Komittee des Roten Kreuzes (IKRK) aus Mariupol war am Freitag aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. Laut Selenskyj konnten dennoch mehr als 3000 Einwohner mit Bussen und Privatfahrzeugen "gerettet" werden.
Der ukrainische Chefunterhändler David Arachamia meldete unterdessen angebliche Fortschritte in den Friedensverhandlungen mit Moskau. Russland habe Kiews Hauptforderungen "mündlich" zugestimmt, sagte Arachamia am Samstag im ukrainischen Fernsehen. Nur hinsichtlich des Status der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim bestehe weiterhin keine Einigkeit.
D.Mertens--JdB