Selenskyj fordert deutsche Führungsrolle zum Schutz der Ukraine
In einer eindringlichen Rede vor dem deutschen Bundestag hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Führungsrolle Deutschlands beim Schutz der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg gefordert. "Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient", richtete sich Selenskyj am Donnerstag direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der per Videokonferenz zugeschaltete ukrainische Staatschef zog auch Parallelen zwischen der Situation seines Landes heute und dem Zweiten Weltkrieg.
"In Europa wird ein Volk vernichtet", sagte Selenskyj mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukrainer. Dabei verteidigten die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch "die Werte, von denen in Europa so viel gesprochen wird".
Mitten in Europa entstehe eine "neue Mauer", die freie von unfreien Staaten trenne, sagte Selenskyj, der von den Bundestagsabgeordneten mit stehendem Applaus begrüßt wurde. In Anlehnung an die berühmte Forderung des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vom Juni 1987 sagte er: "Herr Scholz, reißen Sie diese Mauer nieder."
Selenskyj zeigte sich sehr dankbar für die deutsche Unterstützung für sein Land, ging aber mit der deutschen Russland-Politik bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine hart ins Gericht. Auch Deutschland habe zur Entstehung der unsichtbaren "Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit" beigetragen. Kiew habe Berlin stets gewarnt, dass die Nord-Stream-Pipelines Russlands als "Vorbereitung auf den Krieg" dienten.
"Jetzt sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ihrem Land und dem Land, das diesen grausamen Krieg begonnen hat, eine Brücke über diese Mauer", kritisierte Selenskyj.
Jedes Jahr bekräftigten deutsche Politikerinnen und Politiker mit Blick auf die deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus ihre historische Verantwortung auch gegenüber der Ukraine, sagte Selenskyj. Die Worte "Nie wieder" seien aber wertlos, wenn der Ukraine nicht geholfen werde.
Städte wie Charkiw und Tschernihiw, die bereits im Zweiten Weltkrieg verheerende Zerstörung erlebt hätten, würden nun aufs Neue zerstört. 108 Kinder seien seit der Invasion von den russischen "Besatzern" getötet worden.
Von Deutschland forderte Selenskyj, sich der Luftbrücke zu entsinnen, die die Westalliierten während der Berliner Blockade Ende der 1940er Jahre eingerichtet hatten. "Wir können keine Luftbrücke bauen, denn von unserem Himmel fallen nur russische Bomben."
Selenskyj hatte bereits in einer Rede vor dem US-Kongress am Mittwoch an den Westen appelliert, eine Flugverbotszone über seinem Land einzurichten. Die Nato lehnt dies aber ab. Hintergrund ist die Befürchtung, dass der Ukraine-Krieg sich zu einer Konfrontation zwischen Russland und dem westlichen Militärbündnis ausweiten könnte. US-Präsident Joe Biden warnte mehrfach, ein Eingreifen der Nato könne zum "Dritten Weltkrieg" führen.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sicherte Selenskyj und der ukrainischen Bevölkerung die deutsche Solidarität zu. "Deutschland ist an Ihrer Seite", betonte sie. Kreml-Chef Wladimir Putin habe mit seinem Krieg in der Ukraine "auch unsere Friedensordnung angriffen".
Eine Debatte im Anschluss an die Rede gab es nicht. Die Union scheiterte mit einem entsprechenden Antrag. Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) hatte gefordert, eine Aussprache abzuhalten "über den Stand dieses schrecklichen Krieges" und "eine Zwischenbilanz zu ziehen".
Merz forderte insbesondere eine Rede von Scholz. Das Land habe ein Recht zu erfahren, "wie Sie die Lage sehen". Unterstützung kam von der Linksfraktion. Der parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte sagte, es sei "das Mindeste", dass die Regierung Stellung nehme zu den von Selenskyj aufgeworfenen Fragen.
Die Ampel-Fraktionen wiesen den Debattenantrag zurück. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann verwies darauf, dass die Unionsfraktion der Tagesordnung zugestimmt habe. Es gehe CDU/CSU nur um eine "Inszenierung". Auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr beschuldigte die Union, ein "unwürdiges Schauspiel" aufzuführen. SPD-Parlamentsgeschäftsführerin Katja Mast bezeichnete es als angemessen, Selenskyj zuzuhören und die Rede für sich stehen zu lassen.
W.Baert --JdB